Tüllspitze – eine Erfolgsgeschichte

Tüllspitze

Als modeabhängige Luxusindustrie unterliegt die Herstellung von Stickerei und Spitze saisonalen Schwankungen. In konjunkturell guten Zeiten war die Branche, gerade in den Jahren um 1900, sehr profitabel. Dies veranlasste oft einfache Sticker, Handwerker oder Kleinunternehmer, sich als selbständige Produzenten oder Verleger in der Stickerei zu versuchen. Jedoch waren in Krisenzeiten selbständige Lohnsticker oder Kleinverleger von Verlusten besonders hart betroffen.

Bereits 1872, und verstärkt nach dem Börsenkrach von 1873, rutschte die vogtländische Stickerei in eine tiefe Krise. Vor allem der wichtige nordamerikanische Markt brach damals längerfristig ein. Das hatte zur Folge, dass viele Stickereien nun in Lohnarbeit für Schweizer Fabrikanten stickten. Dieser sogenannte „Veredlungsverkehr“ mit der Schweiz hatte in den 1870er und 80er Jahren ein erhebliches Ausmaß angenommen. Meist waren es billige Massenartikel, die kaum Gewinn brachten, jedoch das Überleben sicherten. (1) Wie konnte man diesem Teufelskreis entrinnen und an frühere Erfolge anknüpfen? In den vogtländischen Stickereien begann eine Suche nach neuen Erzeugnissen und Technologien.

Tatsächlich konnte die Branche 1881 mit einem unerwarteten Paukenschlag das Blatt wenden. Damals war es der Plauener Weißwarenfirma F. A. Mammen & Co. erstmalig gelungen, netzartige Gewebe, sogenannte „Tülle“, zu besticken. Bereits einige Jahre zuvor hatte man auf Anregung des Mitinhabers der Firma Mammen, Theodor Bickel (1837-1903), Versuche zum Besticken von „offenem“ Tüll mit einer Handstickmaschine unternommen. Schließlich gelang es 1880 einer Gruppe von Entwerfern und Stickern, verkaufsfähige Tüllspitzen auf der Handstickmaschine herzustellen. Im Gegensatz zu den aufwändig genähten oder geklöppelten Spitzen, konnte gestickte Tüllspitze deutlich günstiger produziert werden. Gleichzeitig eröffneten sich neue Möglichkeiten für effektvolle Muster. Schon bald nach der Firma Mammen brachte auch die Plauener Weißwarenfirma G. A. Jahn eigene Tüllspitzen auf den Markt, weitere Stickereien folgten diesem Trend.

Der internationale Erfolg der Tüllspitze war überwältigend. Einkäufer aus England, Frankreich und Amerika kamen nun wieder ins Vogtland und orderten in großem Umfang Tüllspitzen. In den Folgejahren waren diese Spitzen unter Begriffen wie „Dentelles de Saxe“ oder „Saxon Laces“ in den Modemetropolen sehr gefragt. (2) Trotz der Flexibilität eines eingespielten Verlagssystems überstieg in den Anfangsjahren die Nachfrage nach Tüllspitzen die Liefermöglichkeiten bei weitem. Dies hatte für Verleger, Fabrikanten und die zahlreichen Lohnsticker negative Auswirkungen. Zwar wurden, um die Lieferverpflichtungen einzuhalten, alle Lohnforderungen der Sticker in dieser Zeit widerspruchslos erfüllt, andererseits musste rund um die Uhr gearbeitet werden. In der Regel begann der Arbeitstag früh 5 Uhr und ging bis spät in die Nacht. Später stabilisierte sich die überhitzte Konjunktur, Überkapazitäten wurden mit schmerzhaften Verlusten nun wieder abgebaut.

Dank ästhetisch ansprechender Muster, einer kostengünstigen Herstellung und einer modebedingten Nachfrage, konnten sich Tüllspitzen auf dem globalen Modemarkt auch in den Folgejahren gut behaupten. Gleichzeitig experimentierten die Stickereien mit neue Mustern, Effekten und Sticktechniken. Ein Ergebnis dessen war die erfolgreiche Einführung der Ätz- oder Luftspitzen Mitte der 1880er Jahre. Damit waren Grundlagen für die nach 1900 aufkommende Bezeichnung „Plauener Spitze(n)“ geschaffen. (3)

Literatur:
(1) R. Jllgen, Geschichte und Entwicklung der Stickerei-Industrie des Vogtlandes und der Ostschweiz, Annaberg 1913, S. 12
(2) B. Zeeh, Die Betriebsverhältnisse in der sächsischen Maschinenstickerei, Leipzig 1909, S. 19
(3) M. Schramm, Konsum und regionale Identität in Sachsen 1880-2000, Wiesbaden 2003, S. 214f.

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